The Wall


literarischer Text für die Ausstellung The Wall im Kunstverein Schattendorf, Oktober 2023



Hallo. Ist da jemand draußen? Hallo. Ein Echo. Hallo! Nickt einfach, wenn ihr mich sehen könnt. Ok, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Hat der Alte immer zu mir gesagt. Aber es ist so. Hört zu. Ich bin hier anstatt einer anderen Person. Ich soll euch erzählen. Von ihr. Aber wie erzählt man von etwas, das immer schon da war. Einfach da ist. Stumm. Und doch so schreiend laut. Etwas, das jede Person kennt, immer sieht, aber nie wahrnimmt, und dennoch nicht übersehen kann, woran wir uns anlehnen und doch nichts spüren, außer Kälte. Ist das Ignoranz, Faulheit oder Angst? Niemand will etwas von ihr wissen. Bis, ja, bis man etwas … Aufhängt. Abnimmt. Streicht. Tapeziert. Verputzt. Einreißt. Durchbricht. Mit Ton. Oder Licht. Sich schützt. Grenzen aufzeigt. Aufzieht. Und dann dummerweise vergisst sie abzumontieren. Vielleicht aus Geldmangel. Oder Absicht. Aber immer in Eile. Verdammt. Und um all das zu erzählen was ist, braucht es Stimmen, gewichtige Stimmen, aber auch sanfte, von Aufrichtigen und Mutigen, von Aufmüpfigen und Gütigen, von Menschen mit Seele. Und die gibt es nicht ohne Schmerz. Könnt ihr mir zeigen, wo es weh tut?


Hey Du. Verlasst mich jetzt nicht. Es war doch einmal. Da, diese eine Wand. Sie ist schon so lange hier. Nah an der Grenze. Sie ist die Grenze. Viele Schatten. Ein Duschraum. Und drei Schüsse. Oder mehr. In die Luft. Oder wohin? Kein Kraftklub. Bis das Dach woanders brannte. Genau hier, aber nicht dort, ist sie. Diese eine Wand. Sie hat schon viel mitgemacht. Aber haben wir das nicht alle? Wir könnten uns selbst leid tun. Nehmt uns doch bitte in den Arm! Wenn sie jedoch erzählen könnte. Irgendetwas bewahre uns! Ihre Stimme erheben andere für sie. Eben, die oben genannten. Sie sind wie Poet:innen. Sie malen uns Bilder im Kopf. Mit Papier und Fliesen und direkt an ihr und dann wieder aus anderen Perspektiven, die Vierte wird durchbrochen wie im Kino oder einer Folterkammer, kleines Format, ganz groß, flüchtig, dennoch greifbar, und jedenfalls ist alles atmosphärisch und sehr oft politisch, aber klassisch, jedoch nicht zwingend gutartig, denn das Böse ist auch in uns, leider, es liegt ohnehin alles in den betrachtenden Augen, wisst ihr doch, aber immer, das wiederhole ich gleich, und egal ob an ihr, in ihr oder mitten im Raum, immer wieder sind da Ziegelsteine. Aber wem erzähl ich das?


Ist da jemand? Da draußen. Ein Ziegel. Und noch ein Ziegel. Und noch ein Ziegel in der Mauer. Ich sehe nur Ziegel. Hallo. Hörst du es? Das Lied. Im Discotakt. Nein! Die Schreie. Von draußen. Oder im Kopf. Nach Vera. Und von Marlen. Nicht pink, und nicht sie, die an einer Mauer lehnt. Wie Suzanne meinte. Ist Vega nicht auch ein Stern? Ich meine eine andere. Diese eine Mauer wird aufgezogen. Aus Glas. Zum Schutz. Mit einem zugelaufenen Hund, einer Katze und einer trächtigen Kuh. Und dann ist diese Person plötzlich die einzige Überlebende. Blöd. Wie einsam. Oder wohltuend. Abgrenzung. Zu spät jedenfalls für flüsternde Wände im Film und Jugend gegen Faschismus. Da marschieren sie bald wieder. Die Hämmer auf Stiefeln. Also rennt davon, wie die Hölle! Vor wem? Vor uns selbst. Oder vor anderen? Vor den Gewalttätigen. Nein, wir wehren uns! Das lassen wir uns nicht gefallen! Nicht noch einmal. Die andere Mauer wird niedergerissen. Für Freiheit. Gleichheit. Ich lache. Schwesterlichkeit wird vermisst. Immer schon. Und Ost wurde West und die Mauern einfach weiter verschoben. Nach rechts. Sie blieben im Kopf. Es ist das Ende. Das war das Ende einer kalten Ära. Und der Beginn wovon? Kurz war alles bunt, in Neonfarben und grell und voll mit Techno und schlechtem Geschmack. Im Nachhinein blicken wir nostalgisch darauf. Ich fühle mich wohlig benommen. Betäubt. Gefühllos. Der Schmerz ist vergangen. Wie geht es euch?


Hallo nochmal. Sind das nicht die glücklichsten Tage unseres Lebens? Vorsicht, dünnes Eis. Wir brauchen keine Gedankenkontrolle. Die Zeiten sind wieder grauer geworden. Neue Mauern werden gebaut. Daher nehmen wir uns in den Arm. Und an die Hand. Solidarität. Das kann auch eine Mauer sein. Aber eine gute, zumindest. Und nun, entspannt euch. Seht nur genau hin! Seht sie euch an. Diese Wand. Und rundherum. Auch im Keller. Das ist alles fesselnd. Also, was wollt ihr noch mehr? 


Etienne Thierry