One universe und der ganze Rest


Innsbruck International Biennal of the Arts, One Universe, Soundinstallation, 2022




Im Jahre 1804 wurde der Ansitz um 18.000 Gulden versteigert, die angrenzenden Gründe des Innsbrucker Großkaufmannes Anton Fischnaler wurden dazu gekauft, am 20.11.1839 ein Durchgang geschaffen und schließlich der ganze Ansitz Angerzell niedergerissen. Nur mehr der Name Angerzellgasse erinnert heute noch an die Stelle Angerzellgasse 4, wo der interessante Edelsitz einst stand.1

– Stopp! So kann das nicht beginnen!
– Wieso?
– Weil es das einzige Universum ist, wo das Gebäude abgerissen wird. Und somit nicht mehr existiert!
– Kann nicht nicht sein! Es existiert doch!
– In jedem anderen Universum ja, aber in diesem nicht.
– Wir könnten doch von hier an weitermachen… blind, quasi!
– Wir sind aber keine Helden und der Krieg ist woanders! Außerdem gibt es unzählige Universen und immer gibt es dieses Haus darin. Nur immer etwas anders. Mit anderen Bewohnern. Mit anderen Besitzern. Mit anderen Geistern. Toten. Lebendigen. Und mit anderen. Von allem ist was dabei.  Und … und… und… So viele Universen, wie Räume, man geht durch eine Tür und ist im nächsten. Oder wie Radiosender. Man dreht am Knopf und …
– „You, you are my universe!“ 
– Was machst du? Dreh diesen Kommerz sofort wieder ab! 
– Aber die Band kennt jeder. Übersetz das mal! Kaltes Spiel. Fast wie Kalter Krieg.
– Du redest Unsinn!
– Das ist mein Universum! Außerdem hast du gesagt, wir brauchen Musik. Das wäre ein roter Faden, der uns leitet!
– Ja, aber nein, wir nehmen etwas aus der Mitte, mit Stiel und Stil und wenn du willst ist ein Martin dabei. Hör zu!


Der uralte Ansitz Angerzell erstreckte sich vom heutigen Angerzell-Durchgang bis zum Pfeiffersberg-Palais. Im Jahre 1571 hieß die Gasse Kugel- oder Puffgasse.1


– Puffgasse! Ja, ok, der Anfang gefällt mir besser! Daumen hoch wäre jetzt an dieser Stelle. Und was heißt das eigentlich?
– Anger = Wiese, Zell = Zeile = Reihe. Puff ist Puff. Und dann kamen etwas später zwei der Heiligen Drei Könige, nur der Balthasar fehlte, aus den Wolken mit Stein und schon war es ein Edelsitz, der dann auch gleich in ein Loch fiel, pardon, Locher! Alles klar? Das war 1591. Man kann das alles nachlesen, wenn man denn will.


Zeit. Raum. Universum. Wir. Du. Ich. Stäbe. Hundewesen.

– Ok. Nächstes Universum. Ich mag die Geschichte mit dem Geist. 
– Ah, das ist eine wilde Geschichte. Die geht so: 1649 folgt Dr. jur. Johann Michael von Schmaus zu Angerzell.1
– Was für ein Name! Und da ist ein Michael. 
– Ja, die kommen öfters vor. So geht’s weiter: geb. um 1590 in Schwaben, Präsident der Tiroler Kammer. In dem nun von Dr. v. Schmaus prächtig ausgestatteten Edelsitz fanden die geheimen Beratungen des Schmaus mit seinen Gesinnungsgenossen über die Frage statt, wie man den Kanzler von Tirol, Dr. Wilhelm Bienner, stürzen könnte, da er allen verhaßt war. Schmaus erhielt, als Chef der Verschwörer, den Auftrag, dem Bienner den Prozeß zu machen, der vom 30.7.1650 bis zur Hinrichtung Bienners am 17.7.1651 dauerte. [sic!]1
– Was soll das [sic!] und hieß der nicht Biener und was hat das jetzt mit den Geistern zu tun?
– Alte Rechtschreibung! Immer als Hinweis darauf, dass eine Auffälligkeit in einem wörtlichen Zitat eine Eigenheit der Quelle selbst ist und kein Versehen der Zitierenden. Aber bitte, das weißt du doch! Biener oder Bienner, beides gilt. Wilhelm meistens und manchmal auch Guilielmus. Und jetzt unterbrich mich nicht dauernd!


Die meisten Anschuldigungen konnte Biener zwar widerlegen, doch der Prozess war eine abgekartete Angelegenheit. Kanzler Biener wurde am 17. Juli 1651 im Schlosshof von Rattenberg enthauptet. Der Schwertstreich des Henkers war so kräftig, dass nicht nur das Haupt, sondern auch die vor dem Haupt zum Gebet gefalteten Hände abgetrennt wurden. Ein vom Kaiser unterzeichnetes Gnadengesuch von Bieners Gemahlin wurde wenige Minuten vor der Hinrichtung von Kammerpräsident Schmaus abgefangen. Als Graf Künigl, der Überbringer des Gnadengesuchs, in die Burg einritt, hört dieser bereits das Totenglöcklein läuten.2


– Grauslich!
– Das Universum ist grausam!
– Und wo ist der Geist?
– Geduld! Angeblich soll Biener kurz vor seinem Tod Folgendes gesagt haben: "So wahr ich aller mir vorgeworfenen Verbrechen ledig bin, ruf' ich meinen Ankläger binnen Jahresfrist vor Gottes Gericht.”

Seine Forderung ging auch in Erfüllung; denn Schmaus starb, ehe drei Monate abgelaufen waren, eines jähen Todes. Am 15.10.1651.3

Und seitdem spukt es in dem Haus in der Angerzellgasse 4. Der Rest, also alles was den Bischof von Brixen Anton von Crosini, das Kloster Wilten, die Erzherzogin Claudia de Medici, den schwachen Erzherzog Ferdinand Karl, den Tiroler Kulturkampf und so weiter betrifft, kann man woanders nachlesen. In einem anderen Universum.

– Der Kampf der Kultur ist aber noch lange nicht vorbei. 
– Nein, sie muss immer noch kämpfen. Sie bringt viel Schönes, aber bezahlt wird nicht fair.
– Alles Prekariat! Working Poor da wie dort!
– Ok, dreh’ am Knopf! Ich habe genug von dieser Welt.


… der deformierte Kakadu. Er verweist auf die Sucht nach dem „weißen Gold“, die im 18. Jahrhundert galant auch als ‘maladie de porcelaine’ umschrieben wurde. Porzellan war kostbare und fragile Handelsware aus dem „Fernen Osten“ und seine Herstellung zunächst in Europa unbekannt. Nach wie vor wird vieles aus China importiert, längst nicht mehr nur als Luxusgut. Doch den Preis für diesen günstigen Konsum in Europa bezahlen prekär existierende Arbeitskräfte in den so genannten Billiglohnländern. Die Porzellanfigur des deformierten Vogels erinnert an die Sehnsucht nach einem letztendlich zerbrechlichen Luxus und an die zerstörerische Wirkung eines maßlosen Konsums, der an die Erfüllung von Wünschen immer nur neues Begehren treten lässt.4

– Weißes Gold. Weißes Gold. Weißes Gold! Was hat das hier verloren? Und wer schürft es? Und schon wieder prekäre Arbeitsverhältnisse überall. Und der bunte Vogel ist nicht von Hitchcock!
– Dann lass den Kakadu fliegen und komm, ich will schwarze Tulpen! 
– Schwarze Tulpen? Laleh. Tulipa. Turban. Holland. Genauso eine Manie, wie das Porzellan. Sogar Alexandre Dumas hat darüber geschrieben. Sollte man lesen. 
– Worum geht’s?
– Um Tulpenwahn, Hysterie, Fieber. Gefängnis. Liebe. Und Rosa. Um Spekulationsblasen in den Niederlanden. Im 17. Jahrhundert. Schwarzes Gold eben.
– Und wo ist der Unterschied zu Jetzt?
– Man fragt sich.
– Und was hat es mit dem Schwarz auf sich?
– Es ist wie Weiß und Grau.
– Was?
– Es ist unbunt.
– Und?
– Die dunkelste aller Farben. Das Fehlen von Licht. Schwarz wurde immer mit Tod, Negativismus, Trauer, Depression in Verbindung gebracht. Es ist jedoch auch die Farbe des Geheimnisses, der Leidenschaft und der Unendlichkeit. Tausend andere Zuschreibungen. Von Zielscheiben und dabei ins Schwarze treffen bis zum kleinen Schwarzen, hin zu Magie, Rußpartikeln und Parteifarben und dann wieder über Diskriminierung von Menschen, ja sogar Kontinenten, zurück zum Ursprung und schwarzen Löchern, wobei wir wieder am Anfang wären. 

– Was flattert da herein? 
– Ein Errata-Zettel!
– Bitte, was ist ein Errata-Zettel?
– Er bessert Fehler aus ohne das Original zu beflecken. So in der Art, ungefähr.
– Darf ja nicht wahr sein.
– Jedes Universum hat seine eigenen Regeln.

Der Ansitz Angerzell wurde am 5. April 1859 an den Handelsmann Leopold Hepperger veräußert und ist seit 2.1.1902 im Besitz seines Enkels Leopold Gostner, Gesellschafter der Firma Leopold Hepperger. Diese ließ den Ansitz im Einverständnis mit dem Denkmalamt restaurieren und verwendet ihn als ihr Bürohaus.1

– So soll es heißen, statt dem was geschrieben wurde. Das hat der Gostner sen. mitgeteilt. Berichtigung Seite 5., 11. Zeile von oben. Das Haus steht noch. Die Fenster sind mit Fetzen und Tüchern verhängt. Schau dir das Foto an. Gelegt. Gehängt. Gefaltet. Tuchhandel. N°9. Nach dem Umbau Herbst 1928.5

– Unglaublich. Die Stoffe.
– Ja, und weiters, am 2. Jänner ist Marie Gostner, gestorben. 1902. Mit nur 44 Jahren, aber wohlgeboren, Kaufmannsgattin, die Tochter vom Hepperger.
– Unglaublicher Stoff!
WEISS- und BUNTWARE.6
– Schwarz auch?
– Wahrscheinlich! Die haben alles. Einfarbig und gemustert. Für Damenanzüge oder Herrenkleider. Und umgekehrt. In der Sorte 115 waren nur gestreifte Leintücher lagernd, glatte dürften vielleicht in 14 Tagen wieder eintreffen.7 Seide und Samt. Alle Futterwaren. Frag nicht. Keine Ahnung. Gegründet 1855. Fachkundige und aufmerksame Bedienung.6

– Wirklich ein anderes Universum. Das gibt’s ja nur mehr selten. 
– Sicher nicht im Amazonas.
– Man kann immer zurückschicken.
– Perfides System. Schlecht fürs Karma. Da lobe ich mir den Hepperger. Was für ein Service. Sogar persönliche Nachrichten auf den Rechnungen. Die fliegen überall herum. Da an den Ing. Rahm in Schlitters.

Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren werten Auftrag und hoffe den richtigen Batist getroffen zu haben. Stets gerne zu Ihren Diensten, zeichnet hochachtungsvoll Leopold Hepperger.8

Da ist man noch per Sie. Wie höflich. Was für eine Welt. Ist der Herr Ingenieur?
– Nein. Das ist sein Name. Ingenuin. 
– Diese Universen. Genial.
– Und schau, die Telephonnummer.!
– 182
– Dreh’ das Radio auf die Frequenz.


Wir. Mann. Frau. Beides. Und dazwischen. Polsterüberzüge. Bayrische Grafen. Und Ignaz von Greifenfels. Mehr Stäbe. Holz. Metall. Schreibtische. Fürs Büro. Auswüchse. Die Witwe vom Mayerhofer. Lautsprecher. Boxen. Schwedische Betten. Neu gedacht.

– Pass auf, der Regen!
– Wo sind wir? 
– Komm unter den grünen Tisch. Der Regen ist sauer.
– Was passt ihm nicht?
– Unachtsamkeit. Überfluss. Und vieles mehr. Kein Platz hier für mehr Kritik. Der Wald ist nicht zu retten. Verätzt. Nur die Zwiebeln der Tulpen werden es überstehen. Im Kreuzgewölbe ist es gut temperiert. Dunkle alte Gemäuer. Dort sind sie gelagert. Sieh es dir an. Die Holzdecken. Die Pilaster. 17. Jahrhundert. Der östlich anschließende Raum trägt eine Holzdecke mit aufgesetzten profilierten Stäben, die in einer Ecke ein Vierpaßfeld, im übrigen Raum Rauten, Kreuze und Vierecke bilden. Baukern. 16. Jahrhundert. Was altes Mauerwerk zusammenhält.9 Die Tulpen werden schwarz blühen. Das ganze Haus ist keine oberflächliche Geschichte. Nur die Fassade. Gotik. Renaissance. Barock I. Barock II. Spätere Interpretationsphasen. Der Regen kann ihr nichts mehr anhaben.

– Und was hat die heilige Maria damit zu tun?
– Die Großmutter wollte, dass sie dort ist, wo sie ist. Auch wenn sie jetzt durch blauen und gelben Stoff blickt. Fliegende Fahnen einer Wohngemeinschaft.
– Auf der Fassade.
– Ja, über der Königin Mutter, die nun unsere Süsigkeit sei.10
– Wo weht es uns hin?


– Reduktion ist das neue Schwarz. Die Hunde sind wohl nicht mehr zu retten. Alle deformiert. Atomkraftwerke werden zu strategischen Zielen. Irgendein Reaktor ist explodiert. Im Osten. Oder Westen. Es kann überall sein.
– Was redest du? Hier sind sie doch! Sie glänzen. 
– Es ist nur drüber lackiert. Damit man die Fehler nicht genau sieht. Wie ein Errata.
– Wenn das Leben nur so einfach wäre. Ich lege einen Zettel rein und schon sind die Fehler ausgebessert. Das wünsch’ ich mir in jedem Universum!


– Immer rauf. Immer rauf. Immer rauf. Immer rauf. 
– Wohin gehst du? 
– In diesem Universum immer rauf.
– Mich nervt das immer höher, schneller, weiter, mehr. Wo ist die Reduktion?
– Nicht hier. Immer rauf. Immer rauf.
– Ich kann nicht mehr.
– Immer rauf. Im Treppenturm. Immer rauf.
– Ganz schön viele Treppen in diesem Turm. 
– Ja, wenn man alles sehen will muss man hoch hinauf.
– Warum denn überhaupt ein Treppenturm? Hätte ein Stiegenhaus nicht gereicht?
– Nein! Wenn man das Große und Ganze betrachten will, dann reicht höher gerade mal aus. Ein Haus ist zu wenig. Immer rauf. Den Überblick hat man nur von ganz oben.
– Und was siehst du?
– Dieses Universum. Und wie alles zusammenhängt. Mit den anderen Universen.
– Und wie?
– Mit Kakao. Ganz international. Süsigkeit.
– Das macht Sinn.
– Komm! Wir schwimmen eine Runde.
– Wo denn?
– Na oben am Dach. Da hat er sich zur Museumsstraße hin und über zwei Gebäude hinweg einen Pool gebaut, gefüllt mit Trinkschokolade! Was sonst!
– Ah, jetzt versteh’ ich: Immer rauf. Immer rauf.


Tulpen. Porzellan. Errata. Stoffe. Gostner. Skizzen. Turm. 182. Ein Bett. Und Nummer 7. sowie 9. oder 4. Alles wiederholt sich. Hundewesen. Stäbe. Ich. Du. Wir. Universum. Raum. Zeit. Du kennst den Rest.

– Führst du Selbstgespräche?
– Ja, am liebsten mit dir!
– Du bist ich.
– Nein, aber umgekehrt. 
– Und jetzt?
– Ich erzähl’ dir von einem Universum, einem Ende und einem Anfang. Und von Schleifen aus Zeit, Raum oder Stoff vom Hepperger. Und von der Ursuppe aus Tulpenzwiebeln, die alles zusammenhält. Also:

Im Jahre 1804 …1


Zwei-Kanal-Soundinstallation, 2022
Text: Etienne Thierry
Komposition und Sounddesign: Martin Mitterstieler
Idee und Konzept: Michael Strasser


1 “Alt-Innsbrucker Stadthäuser und ihre Besitzer”, Rudolf Granichstaedten - Czerva, Wien: Sensen-Verlag, 1966
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Biener
3 “Sagen aus Tirol”, gesammelt und herausgeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck, 1891, Nr. 1003, S574f
4 “Der Angriff der Gegenwart”, Ausstellungstext, Mag.a phil. Brigitte Felderer, Wien, 2020
5 “Leopold Hepperger Innsbruck”, Postkarte, 1928, Stadtarchiv Innsbruck, Ph-24341
6 “Leopold Hepperger Innsbruck”, Flugsendung, Findbuch 1976, Stadtarchiv Innsbruck, Fir-340
7 “Leopold Hepperger Innsbruck”, Rechnung Nr. 70/529, 1923, Stadtarchiv Innsbruck, Fir-672
8 “Leopold Hepperger Innsbruck”, Rechnung Nr. 4342, 1930, Stadtarchiv Innsbruck, Fir-580
9 “Was altes Mauerwerk zusammenhält”, DI Anja Diekamp, in: Zukunft Forschung 0212 - Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, 2012, S. 26ff
10 Wandmosaik, Mariendarstellung, Westfassade Angerzellgasse 4, Innsbruck