Esther


Die Rampe 4/2021

 

Esther


Es ist kurz vor Mitternacht, als ich ankomme. Hier ist es später. Die ganze Reise ist eine einzige Sicherheitskontrolle. Und teuer. Es hat mich einige Zeit gekostet, das Geld dafür zusammenzukratzen. Endlich aus Ben Gurion draußen, finde ich es sehr schade, dass ich durch die Dunkelheit nichts von der Umgebung sehen kann. Und gleich darauf blenden mich die Lichter der weißen Stadt. Ich sauge jedoch die salzige Luft, die sie verströmt, tief in mich ein. Aufregung. Ich bin das erste Mal hier.

„Hallo, Hannah!“
    Esther steht in der offenen Tür. In ihrer Straße ist es ziemlich dunkel. Das Licht, das sie von hinten anscheint, macht aus ihr einen schwarzen Schatten. Wärme strömt jedoch daraus hervor. Ich glaube ein Lächeln in all dem Schwarz zu erkennen.
    „Hast du es also auch ohne meine Hilfe hierher geschafft!“
    Sie ist immer noch so hart. Sie schenkt mir nichts. Noch nie. Und sie kennt mich zu gut. Ich bin trotzdem leicht stolz auf mich. Sie konnte mich nicht abholen. Und wollte es wahrscheinlich auch nicht. Ich habe es tatsächlich geschafft, ganz allein meinen Weg zu dieser Adresse zu finden. Ohne Taxi. Ohne Telefon. Ohne Orientierungssinn.
    „Hallo, Esther!“
    „Die Laterne ist seit Tagen kaputt.“ Sie dreht sich seitlich, um mich mit einer Geste reinzulassen. Im Profil sehe ich einen neuen Nasenring. Sie ist dünner geworden. Wirkt androgyner. Aus ihrem Kopf wachsen Dreads. Es sieht aber gar nicht zum Fürchten aus. Ich steige die drei Stufen vom Vorgarten zur Tür hinauf. An der Schwelle mache ich halt. Ihr Arm versperrt mir den Weg.
    „Du kannst jetzt nicht einfach so wieder in mein Leben!“
    Ich starre sie an. Die Gesichtszüge sind genauso hart wie ihr Wesen. Noch härter als früher. Wären da nicht diese weichen, braunen Augen. Ich habe mich damals in genau diesen Kontrast verliebt.
    „Ich besuche dich nur, haben wir doch besprochen!“
    „Und endlich das Grab deiner Urgroßmutter.“
    „Ja, das auch!“
    Sie starrt zurück. Ihr Blick nimmt mich gefangen. Nichts hat sich verändert. Und doch ist alles anders. Mein Herz geht auf. Ihres ist bereits offen. Sie küsst mich auf den Mund. Wir umarmen uns lange.

Wir holen die Berührungen nach. Drei Jahre brauchen schon ihre Zeit. Das schaffen wir nicht in einer Nacht. Auch nicht in zwei Wochen. Sie war eine meiner Yogaschülerinnen als sie in Wien lebte. Das ist fünf Jahre her. Im Esterházypark. Ihre Augen haben mich auch damals schon angestarrt, als wollten sie mich aussaugen.
    „Wir zwei gehen was trinken!“, hat sie mich nach der zweiten Yogastunde gefragt. Obwohl, das war eher ein Befehl. So ganz nebensächlich. Während sie ihre Matte einrollte. Ihre langen, fast schwarzen Haare klebten an ihrer verschwitzten Haut. Helles Holz. Es war Sommer. Sie schmeckte nach Salz.
    Zwei Jahre später haben wir uns gegenseitig ausreichend genug verletzt, um zu beschließen, dass eine Freundschaft mit gelegentlichem Sex wohl besser wäre. Wir wollten beide nicht auf irgendetwas verzichten. Schon gar nicht auf diese seelische Verbindung, die wir hatten. Wir haben uns jedoch geirrt. Man kann nicht alles haben. Und dann verschwand sie komplett aus meinem Leben.

Sie schleift mich nun durch ihre Stadt. Bis nach Jaffa im Süden. Mir gefällt alles. Am dritten Tag habe ich aber genug von Bauhaus. Es langweilt mich. Ich will raus aus der Stadt. Sie bringt mich zuerst nach Herzlia. Auch dort ist die Luft salzig. Dann einen Tag zum Toten Meer. Noch mehr Salz. Fast eine Überdosis. Aber das leichte Treiben auf der Oberfläche ist wie eine langersehnte, erholsame Pause von der latenten Schwere, die in dem Land überall herrscht. Auch wenn man noch so will, hier kann man nicht in die Tiefe gehen.
Ich verletze mich an der großen Zehe. Ein spitzer Stein reißt meine Haut auf. Es blutet kurz, aber intensiv. Der Schmerz vergeht. Die Zeit auch. Es geht weiter nach Jerusalem. Ich bin überwältigt. Beeindruckt. Diese Stadt schwitzt Geschichte aus allen Poren. Und Religion. Plötzlich kann ich nicht mehr atmen. Irgendwas schnürt meine Kehle zu. So viele Menschen. So viele Soldaten. So viel Gewalt. Und dann fühle ich das Salz überall. Es ist in der Luft. In meinen Lungen. Es kommt in meine Wunden. Und es brennt höllisch. Anscheinend heilt die Zeit nicht alle.

Am Abend kommen wir zurück nach Tel Aviv. Wir beschließen einen Joint zu rauchen auf ihrem Dach. Und dazu Rotwein zu trinken. Das ist es, was ich brauche. Glaube ich. Aber was glaube ich eigentlich? Mir fehlen die Antworten hier. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich will mich jetzt auch nicht mehr damit beschäftigen. Abschalten. Das Ding ist schnell fertig gedreht. Und angezündet. Esther reicht ihn mir rüber. Ein Zug. Zwei. Mit links. Ich lehne mich zurück und blicke nach oben. Ich spüre wie sie ihre Hand auf meine rechte legt. Das beruhigt mich. Das konnte sie schon immer. In der vom künstlichen Licht verschmutzten Nacht kann man wenig wahrnehmen. Sterne. Bilder. Und dann sehe ich ein Feuerwerk. Nur kurz. Ich glaube, dass ich mir das nur einbilde. Oder der Joint meint, dass ich das sehen soll.
    „Es ist kein Feuerwerk,“ sagt sie ganz klar.
    Ich schaue sie fragend an.
    „Es ist die eiserne Kuppel. Wir sind ständig unter Beschuss.“
    Meine Augen sind ganz groß. Nicht vom Joint. Aber ich mache noch einen Zug.
    „Wie eine riesige, unsichtbare Plastikhülle. Die alles schützt.“ 
    Sie grinst. Er zeigt seine Wirkung. Alle Bilder werden an den Rändern unscharf.
    „Es ist ein goldener Käfig.“ Denke ich laut.
    Ich gebe ihn Esther zurück. Sie zieht schnell und öfters daran. Bläst den Rauch in den dunklen Himmel. Sie lacht. Wie immer laut. Über mich.
    „Wir haben dieses Raketenabwehrsystem. Iron Dome.“ Sie wiederholt den Namen langsam. „Wir brauchen keine Helden mehr.“
    Jetzt muss ich auch lachen. Und ich weiß nicht, woher aus welcher Gehirnwindung es kommt, aber ich muss plötzlich an Tina Turner denken. Anscheinend hat Esther den gleichen albernen Gedanken. So schnell kann ich gar nicht schauen, oder nicht mehr, holt sie ihr Telefon aus der Hosentasche, tippt kurz wild herum und dann kriecht es auch schon metallisch aus den schlechten Lautsprechern des kleinen Apparats. Dieses Lied. Wir platzen. Ich pinkle mich fast an. Wir kriegen uns gar nicht mehr ein. Und singen mit. Lauthals. Aber eigentlich ist das alles ja nicht zum Lachen.



Lior


Nach einer Woche nehme ich mir eine Auszeit von Esther. Sie ist nicht erfreut. Unter Protest lässt sie mich aber doch ziehen. Ich möchte ihn treffen. Ich muss, irgendwie. Wir haben uns in New York kennen gelernt. Vor über zehn Jahren. Es war in einem Club. Am Sonntagnachmittag. Irgendeine alte, aufgelassene Fabrik oder Galerie. Die Schlange war extrem lang. Ich wunderte mich kurz, warum alle so drauf waren, denn es gab keinen Alkohol dort. Als ich es kapiert hatte, ließ ich meine Wasserflasche nicht mehr unbeaufsichtigt herumstehen.
    Irgendwann als die Beine immer wilder wurden, die Haare im Wind flogen, die Busen im Takt auf und ab hüpften und sich der Schweiß langsam auf den Gesichtern spiegelte, stand er dann vor mir. Lior hat nicht viel gesagt. Aber er hatte ein schelmisches Lächeln und sein Anmachspruch war witzig. Außerdem gefiel er mir. Das habe ich in meinem Nebel nicht sofort gemerkt. Nur, dass er schöne weiße Zähne hatte. Erst als wir kurz darauf an der Bar standen, habe ich ein Detail nach dem anderen entdeckt. Wie Hinweise bei einer Schatzsuche. Ebenholz. Augen. Locken. Kurz, aber unzivilisiert. Kopf wie Brust. Helleres Holz. Der Körper. Geformt vom Militärdienst. Ein Gesicht, das viel erlebt hat und dies auch ausspricht. Wir haben nicht mehr viel geredet. Auch nicht an den nächsten drei Tagen. Dann bin ich wieder zurückgeflogen nach Europa. Seitdem habe ich eine Vorliebe für Männer mit ungezähmten Brusthaaren und körnigen Händen. Wie grobes Salz.

Deswegen muss ich ihn wieder treffen. Es fühlte sich so gut an. Er fühlte sich so gut an. Alles brannte. Nichts war jedoch unangenehm. Bis auf den Abschied. Wir hielten spartanisch Kontakt. Periodisch zum Ende unserer jeweiligen Beziehungen. Coitus interimus. Der letzte ist zu ewig her. Und jetzt schickt er mich quer durch die Stadt zu einem Treffpunkt. Lilienblum irgendwas. Schöner Name für eine Straße. Denke ich kurz. Längstens bin ich jedoch schon verärgert. Denn ich irre planlos herum. Ach, hätte ich nur einen in Papierform wie früher. Man verlässt sich mittlerweile zu sehr auf das Internet. Ich frage jemanden. Das ist immer spannend. Mal abgesehen davon, dass der Einzige, der in diesem Moment in der Nähe ist, wie könnte es auch anders sein, nicht wirklich Englisch spricht und ich nicht Hebräisch. Auch ohne Sprachbarrieren ist es eine Lotterie, ob der Befragte nur so tut, um einen schnell loszuwerden, oder wirklich weiß, wo man hin will, und wenn das der Fall ist, ob er den Weg auch verständlich beschreiben kann. Dann muss die Botschaft nur mehr richtig ankommen im Gehirn. Nicht nur am Ohr. Ein Funken Orientierungssinn wäre auch hilfreich. Den habe ich aber nunmal nicht. Verdammt. Blödes Cliché erfüllt. Doppelt verdammt.

Wir haben auch dieses Mal nicht lange geredet. Und jetzt ist er auf mir. In mir. Seine Hände reiben die Vergangenheit von meiner Haut. Seine Brusthaare kleben zwischen uns. Sein Schweiß tropft wie Salzlake auf mich. Ich bade darin. Wie im Toten Meer treibe ich auf einer glitzernden Oberfläche dahin. Flüssig. Salzig. Schwerelos.

Ich bleibe über Nacht. Und den Morgen. In der Lake. Wir gleiten noch ein paar Mal über das spiegelglatte Wasser und schlagen Wellen. Ich schlafe mit dem Licht. Es brennt manchmal leicht. In den Wunden. Den alten und den neuen.
    Er sagte mir ganz am Anfang einmal, dass ich die einzige Deutsche sei mit der er geschlafen hat. Ich war leicht verärgert über den Unsinn und verwundert, was das für eine Rolle spielte. Und ich glaubte ihm nicht.
    „Und außerdem bin ich aus Österreich.“
    „Das ist das Gleiche.“
    „Genau genommen kommt meine Familie aus …“, protestierte ich und wollte ihn über meine Herkunftsmischung aufklären. Doch soweit sind wir nicht gekommen. Die Härte des beschnittenen Olivenholzes ließ meinen Unmut verstummen.

Wir verabreden uns für den Abend. Zum Essen. Dieses Mal wirklich. Ich frage Esther, ob sie mitkommen will. Doch sie hat kein Interesse an maskulinem Heterogequatsche. Ihre Worte. Ein Missfallen. Sie heißt nicht gut, was letzte Nacht passiert ist. Sie ist verärgert. Und vielleicht ist sie eifersüchtig. Das versucht sie jedoch zu verbergen. Denn es gibt keine Zügel. Keine Leine. Wir lassen uns. Sie nimmt mir aber das Versprechen ab, die restlichen Tage, die noch bleiben, nur mit ihr zu verbringen. Schließlich sei ich ja wegen ihr gekommen. Ich kreuze meine Finger innerlich. Nicht ausschließlich. Sagt mein Kopf leise.

Dieses Mal finde ich sofort hin. Dizengoff. Ecke irgendwas. Ich bin wieder ein bisschen stolz. Das Essen ist gut. Aber es fehlt Salz. Komischerweise. Und nicht nur das. Die zwei anderen Männer reden tatsächlich nur uninteressantes Zeug. Die einzige Frau am Tisch ist auch keine Unterhaltung. Sie faselt ausschließlich Wirres von Optimierung ihrer Selbstportraits für Instagram. Bestes Licht. Beste Pose. Beste Filter. Ich bin gelangweilt. Auch das Nägelgespräch würde mich mit meinen Freundinnen mehr reizen, als mit einer Fremden. Außerdem habe ich gerade keine. Abgebissen. Und schleißig drüber lackiert. So sind auch die Gespräche am Tisch. Wir kratzen nur am Lack, der ohnehin bröckelt. 

Lior hat sich verändert. Das ist mir letzte Nacht nicht wirklich aufgefallen. Oder ich wollte es nicht sehen. Erst jetzt tauchen die letzten Sonnenstrahlen ihn in ein anderes Licht. Er redete zwar noch nie viel. Hat aber auch nichts zu sagen. Die markanteste Veränderung. Er hat keine Meinung. Vielleicht hatte er die aber noch nie? Wir haben uns eigentlich niemals wirklich unterhalten. Gesprochen haben nur unsere Körper. Angeregt. Jetzt schweift mein Blick ab. Ich bin schon woanders. Bei ihr. Vielleicht hatte Esther ja recht. Eine weiße Katze läuft vorbei. Mit schwarzen und roten Flecken. Ich finde sie schön.
    „Eine Glückskatze!“, teile ich den anderen fröhlich mit. Verwunderte Gesichter starren mich an.
    „Eine dreifarbige Katze, das bringt Glück!“
    Mehr habe ich nicht gebraucht. Ein Donnerwetter bricht über mich herein. Ich werde von bösen Blitzen getroffen. Aus heiterem Himmel. Ich weiß überhaupt nicht, was das soll. Und was ich getan habe. Ich höre nur, was ich für eine extra dumme Kuh bin. Das sagt niemand laut. Doch sie werfen es mir mit anderen Worten ins Gesicht. Im besten Fall halten sie mich für naiv. Sie reden alle auf mich ein. Bombardieren mich. Farben. Nazis. Reichskriegsflagge. 
    „Was? Mir war das nicht bewusst!“
    „Das sollte es aber, als Deutsche!“
    „Ich bin aber keine! Und das ist doch nur …“
    „Das ist so antisemitisch … “
     Ich bin völlig verwirrt. Mir ist schwindelig. Ich möchte mich erklären. Ich bin das genaue Gegenteil davon. 
    „Ich bin gegen alles was rechts ist.“
    „Dann solltest du deine Geschichte besser kennen!“
    „Ich habe mir nichts dabei gedacht … “
    „Genau das ist das Problem!“
    Ich fühle mich falsch verstanden. Doch all meine Erklärungsversuche dringen nur bis zum Rande ihrer Ohren, aber nicht weiter. Ich wurde schon davor abgestempelt. Das wird mir plötzlich klar. Und jetzt werde ich noch dazu in eine Ecke gestellt. Lior hat keine Worte zu all dem. Mir ist schlecht. Ich bin enttäuscht. Traurig. Ratlos. Der Abend ist gelaufen. Ich sehne mich nach Esther. Sie versteht mich. Ich frage mich, wie tief die Wunden sitzen. Sie hätte bestimmt eine Antwort darauf. Hat sie immer.

Als ich am Vormittag zu ihr nach Hause komme, liegt Esther noch im Bett. Sie weint. Das kenne ich nicht von ihr. Sie schluchzt so laut, wie sie sonst lacht. Ich lege mich zu ihr, und schlinge meine Arme und Beine behutsam von hinten um sie, so als müsste ich aufpassen, sie nicht zu wecken. Ich halte sie fest. Und lasse nicht los. Ich küsse sie im Nacken. Dann schließe ich die Augen. Und weine mit.

Gegen frühen Nachmittag liegen wir beide nebeneinander auf den Rücken und starren die Risse in ihrer Decke an. Und rauchen im Bett. Wir fürchten uns nicht vor Brandlöchern. Und lachen wieder. Sie laut. Irgendwann wird es still.
    „Wann werden die Wunden heilen?“ Ich frage sie und mich. Meine uns. Und die Welt. Fixiere dabei einen bestimmten Riss über mir auf dem Plafond. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, merke aber wie sie ihren Kopf zu mir dreht.
    „Niemals.“



Elad


„Du wirst dich immer entschuldigen müssen. Dein Leben lang. Und manchmal vielleicht auch für Dinge, die du nicht getan hast.“
Er spricht wie ein ewiger Gott. Ich stimme ihm zu. Er ist älter geworden. Auch er hat sich verändert. Der Bub, den ich auf einer Insel in Thailand kennengelernt habe, ist nur mehr in den Augen wieder zu erkennen. Elad ist ein Mann geworden. Groß gewachsen. Und hat den Versuch eines Bartes. Er sieht immer noch süß aus. Doch er riecht salziger. Wie die Luft um uns herum. Auch er ist eine gute Mischung aus dunklem auf hellerem Holz. Wir spazieren am Strand entlang. Wir erzählen uns, was wir vom Leben des anderen verpasst haben. Der Wind trägt manche Worte weit weg. Meine weiße Haut hat in den letzten Tagen trotz fünfzig Schichten Sonnencreme eine goldene Patina bekommen. Mein Haar gebleicht. Die Sommersprossen haben sich verdoppelt. Er hat Olivenöl aufgetragen. Wie passend. Denke ich. Er funkelt in der Sonne. Elad wird seinem Namen gerecht. Esther ist noch in der Arbeit. Sie wird dann später zu uns stoßen. Wir sind in der Nähe vom Hilton. Da ist sein Lieblingsstrandabschnitt. Der Regenbogen ist überall. Zuerst finde ich das toll. Hier ist alles offen und frei. Als wir uns auf den Handtüchern niederlassen, dauert es nicht lange, bis wir in Gesellschaft einer engen, dick gefüllten Badehose sind. Ich frage mich, ob da eine Socke drinnen steckt. Elad wird durchgehend beobachtet und ständig angemacht. Er ist auf dem Präsentierteller. Hier wird über jeden geurteilt. Über jeden Zentimeter. Zu viel auf den Hüften. Wie viel in der Hose? Ich finde das furchtbar. Hier geht es schwulen Männern so, wie es Frauen nicht selten geht. Es fühlt sich gerade sehr anstrengend an. Genauso ist es oft, denke ich. 

Nach einiger Zeit wird es aber auch Elad zu viel. Überdosis an Komplimenten. Guten wie schlechten. Wir beschließen weiter zu gehen. Ich will nach Norden den Strand entlang spazieren.
    „Das geht nicht,“ sagt er.
    „Wieso?“
    „Wir müssen außen rum. Da ist eine Mauer.“
    „Nicht dein Ernst!“
     „Doch! Du wirst gleich sehen. Nach dem Schwulen- und Hundestrand kommt der Abschnitt für die Orthodoxen.“ 
    „Was zum …“
     Ich weiß nicht, woran ich mich mehr stoße. 
    „Schwule und Hunde in einem Satz, klingt allein schon grenzwertig, findest du nicht?“ Ich lasse ihn gar nicht antworten. „Aber diese Unterteilungen! Und dann noch dazu diese Mauern!“
    „Das ist, weil …“, stammelt er.
    „Ich weiß schon warum. Und ich respektiere das. Aber es fühlt sich einfach komisch an!“
    „Das ist hier einfach so ist.“ Er zuckt die Schultern. „Konservativ und liberal zu gleich.“ Er blickt mich an. „Die Welt ist so.“ 
    Da hat er wohl auch recht. Ich gebe es aber nicht zu. 
    „Mauern grenzen aus. Ich bin dafür, dass sich alle vermischen sollten. Das baut Ressentiments ab und Respekt auf. Nicht schwarz oder weiß. Sondern beides und alles dazwischen.“
Doch ich träume von einer Utopie.

Am späten Nachmittag hat uns Esther aufgespürt. Wir sitzen in einem Strandcafé. Der Wein in der Sonne macht mich ein bisschen schwummrig. Das fühlt sich jedoch ganz gut an. Militärhubschrauber über uns. Ich gewöhne mich daran. 

Auf dem Heimweg hängt Esther sich bei mir ein. Sie lacht wieder laut. Und küsst mich auf die Schulter.
    „Jetzt schmeckst du auch endlich salzig!“
Dann zwinkert sie mir zu und legt ihren Kopf darauf. Er ist schwer. Die Häuser an der Straße sind mit Plakaten tapeziert. Das Muster wechselt zwischen der Ankündigung der europäischen Judo-Meisterschaft und jener für ein Konzert der südafrikanischen Band, Die Antwoord, epileptisch hin und her. Freaky. Finde ich auch abgefahren. Die Kombination. Plus all das andere auf so einer kleinen Landfläche. Wie soll sich das ausgehen? Das Lied der Band setzt sich ungewollt in meinen Gehirnwindungen fest. 
    „Und was ist die Antwort eigentlich hier?“ 
    Ich habe laut gedacht. Esther schweigt jedoch überraschend und ich frage mich kurz, ob sie betrunken ist oder nachdenkt. 
    „Es gibt nicht eine Antwort!“, spuckt es plötzlich aus ihr raus, „Es gibt auch nicht nur eine Lösung. Das Problem ist, dass alle recht haben oder keiner. Alles andere ist Salz in den Wunden.“



Hannah


Natürlich will ich meine Urgroßmutter zu besuchen. Das heißt, ihr Grab. Das war der Vorwand für diese Reise. Sie wollte hier sterben. Vor dem Krieg flüchtete sie schwanger nach Frankreich. Und weiter nach Palästina. Kehrte zurück zu ihrem Mann nach Österreich. Er war nicht jüdisch und hatte überlebt. Liebe war ihr immer schon wichtiger als Religion. Und jetzt liegt sie hier. Ich habe sie nie kennengelernt. Kenne nur schwarzweiße Fotos. Und Erzählungen. Ich wurde nach ihr benannt. Hannah. Die Barmherzige. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich diesem Namen gerecht werde. Esther behauptet immer, dass es so ist. Dabei lacht sie jedes Mal laut.

Im Bus auf dem Weg zum Friedhof sitzt sie neben mir und hält meine Hand. Dafür bin ich dankbar. Ich sehe aus dem Fenster und erst jetzt fällt mir das überbordende Meer aus Fahnen auf. Ein Ozean. Blau. Auf weiß. Überall. David. Sterne. Wie konnte ich das übersehen? Siebzig Jahre. Das ist gut. Sehr sogar. Aber die Masse der wehenden Dinger ist übertrieben. Finde ich. Fast erschreckend einschüchternd. Nationalstolz verstehe ich irgendwie nicht. Er gefällt mir in keinem Land. Ich versuche mich in eine Palästinenserin hineinzuversetzen. Wie versalzen ist die Suppe, die man ihr vorsetzt? Und was mache ich mit so einem geteilten Herz?

In Gedanken versunken steige ich aus und schaue halbherzig auf die Karte, die mir Esther zu ihrem Spaß in die Hand gedrückt hat. Sie fixiert im Gehen ihr Smartphone. Ich höre von irgendwo Schreie. Denke mir aber nichts dabei. Und dann sehe ich plötzlich noch einen Stern. Silber. Und er rast auf uns zu.

Zu schnell. In Sekunden. Mein Leben rast aber nicht vorbei. Ich schmecke Salz im Mund. Und Metall. Ich sehe Esther. Sie fliegt durch die Luft. Ihr Name bedeutet Stern. Dann wird es schwarz.

Als es wieder hell wird, ist ziemlich viel rot um mich herum. Ich sehe Esther wieder. Sie liegt mit dem Gesicht auf dem Asphalt. Es ist schmutzig. Ihre Augen sind geschlossen. Rundherum ist Blut. Staub. Schmutz. Panik. Ich möchte zu ihr. Ich kann mich aber nicht bewegen. Der Boden lässt mich nicht los. Rundherum sind Menschen. Stimmen. Schüsse. Eine Träne löst sich. Und verschwindet im Staub. Dann kann ich die Lider nicht mehr offen halten.

Das nächste Mal, als ich die Augen aufmache, ist alles weiß. Blaue Lichter, gelbe Westen und grüne Masken um mich herum. Ich höre irgendjemanden sprechen. Oder mehrere. Amoklauf. Mercedes. Attentäter tot. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich sehe Esther nicht mehr.

Es endet mit einem Kuss. Mit Tränen. Oder wenn die Lichter ausgehen. Ich glaube, diese Weisheit hat sie aus einem Lied. Esther hat keine Angst davor. Sie lebt immer jetzt. 


Etienne Thierry