Die große Welle


etcetera Ausgabe #88


Er betrachtet die Postkarte. Irgendetwas in ihm bewegt sich. Er muss sie ansehen. Er kann seinen Blick nicht lösen, so als ob er gezwungen würde hinzusehen. Seine Augen werden wässrig. Er hat lang genug weggesehen. Tränen laufen plötzlich über seine von der Sonne gegerbten Wangen. Es ist nicht zu verhindern, er will es auch nicht mehr unterdrücken. Alles ist miteinander verbunden, er kann die Millionen Gründe seines Schmerzes nicht mehr von Freude unterscheiden. Alles verschwimmt. Es ist wie ein Sturm, der über ihn hereinbricht. Wie auf der Karte. Sie wurde nie abgesandt. Er hat sie in einem Souvenirshop gekauft, genau genommen geliehen, aus dem Kartenständer, mit Angstschweiß bezahlt, nachdem er an einem ungewöhnlich regnerischen Tag durch die fremde Stadt irrte, wo er das erste Mal war. In jenem Moment jedoch konnte er nicht anders. Verwirrt und geformt von den Ereignissen, die hinter ihm lagen, ihn hierher brachten, ängstlich vor den kommenden, und überfordert von den anstehenden Entscheidungen, die sein Leben verändern würden, hatte er plötzlich das Bedürfnis zu fliehen. Ganz weit weg, in das Land der aufgehenden Sonne. Die große Welle vor Kanagawa, dieser winzige Farbholzschnitt, oder das Abbild davon, hat ihn nicht mehr losgelassen. Als ob er auf diesem Boot gewesen wäre, als ob er in dem gleichen Sturm um sein Leben gebangt hätte. Im Hintergrund jedoch der Ätna und nicht der Fuji. Er zittert. Das Bild auf der Karte wird unscharf und ein Tropfen, der sich von dem schon so frühzeitig zerfurchten Gesicht gelöst hat, landet darauf.

Zweiundzwanzig Frühlinge. Gefühlter Winter. Hier gibt es nichts mehr. Fast alle sind schon gegangen, aber es kommen immer wieder Neue. Erst letzte Nacht hat er sie gesehen. Die Überlebenden. Viele Hände,mondlos dunkel gefärbt, die sich nach Hilfe suchend gegen den stürmischen Nachthimmel reckten. Der Wind so laut, dass die Ohren schmerzten und die Schreie, ja sogar die eigenen Worte, nicht zu verstehen waren, die Wellen wie schwarze Mauern, die jeder Zeit einzustürzen drohten, und dies dann auch zur Wahrheit machten, die Gischt am Bug, die wie Peitschenschläge auf seinem Gesicht brannte und das grausame Ächzen des Schiffes, so als wollte es sagen, ich kann nicht mehr, ich zerbreche.

Bilder der Nacht blitzen auf. Erinnern ihn. Es strömt in seinem Gesicht. Die Mandelaugen sind rot. Sie waren auf der Rückfahrt, die Arbeit allein zermalmt die Knochen, als der Sturm seine ersten Tentakel ausstreckte. Die Netze waren ohnehin halbleer und trotzdem gefüllt mit unbrauchbaren, halbtoten Kreaturen der Tiefe, wohin diese auch wieder zurückgesandt wurden. Zum Sterben überlassen. Wie so viele der dunklen Hände auch. Seitdem die großen Trawler mit ihren riesigen Schleppnetzen auch in dieser Gegend ihr Unwesen treiben, verfangen sich fast nur noch Jungfische in den Maschen der kleinen Fischerboote oder eben kleine Haie und Rochen oder ähnliches. Beifang. Nicht wertvoll, im Konzernsprech. Das Meer ist eine Wüste geworden. Schlepper da und dort. Beifang auch hier. Die Neuen müssen zweimal eine Wüste durchqueren, Sand und Wasser. Das kostet viel Geld. Und manchmal das Leben. Heute Morgen hat er sie gesehen. Die Toten. Am Strand vor Catania. Bedeckt mit hellen, fast weißen Tüchern. Die dunklen Hände. Im Licht des Tages haben sie ihre Farbe verloren. Nicht zu unterscheiden von seinen. Der Sturm war stark. Nur wenige haben sie lebend aus dem Meer gezogen. Auch der Funkspruch an die Küstenwache hatte nicht allen helfen können. Sie war schnell da, jedoch zu spät. Mare Nostrum oder Frontex. Namen ohne Bedeutung für ihn. Er hat davon gehört, aber es war ihm fern. Die letzte Nacht ist ihm jedoch nah. Niemals wird er sie vergessen. Es war nicht sein erster Sturm. Dieser jedoch hat ihm alles gezeigt. Alles. Er hatte damals Glück.

Flüchtling. Welle. Er versteht jetzt. Es ist nur eine Kombination von Wörtern, deren Bedeutungen oft gegeneinander kämpfen. Er selbst war auf so einem Boot, das diesen Namen nicht verdiente. Aber schon davor war es lebensgefährlich. Ein koptisches Herz lässt man nicht laut schlagen. Nicht in seiner Heimat. Das hat er überlebt. So wie alle Wellen bisher. Angespült an den Hängen eines Vulkans. Er durfte bleiben. Im Inneren brodelte es weiter. Lang hatte er es vorbereitet, heimlich, alles was er hatte dafür aufgewendet. Und deswegen diesen Job hier angenommen. Oder gefunden, vielleicht nur glücklicherweise. Niemand, der nicht verzweifelt ist, will das freiwillig machen. Harte Arbeit, aber zumindest schnelles Geld. Davon gibt sonst nicht viel und immer weniger. Irgendwie bezahlt man auch dafür. Ausgemergelt. Ausgebeutet. Ausgeblutet. Wie das Meer. Er spürt es. Er möchte besser leben. Und sucht neue Fluchtrouten in seinem Kopf. Es wird schwierig werden und alles wird fremd sein. Er wird auch diese Heimat auf eine Art und Weise vermissen. Doch hier gibt es nichts mehr. Auch hier ist Wüste. Die meisten sind schon weg, wie der Großteil der Menschen, die ihm etwas bedeutet haben. Unzählige Neue kommen nach. Er wird Platz machen.

Religiös verfolgt. Und doch auch Arbeitsflüchtling. Darunter würde man ihn einordnen. Kategorisieren zur Sicherheit der anderen. Um deren Gewissen zu beruhigen. Er betrachtet die Welle in seiner Hand. Sie gibt ihm plötzlich Halt. Er wird wahrscheinlich niemals den Fernen Osten sehen. Er wird in den Norden gehen. Dort sind Verwandte. Bekannte. Freunde. Über Mailand hinaus. Er wird noch mehr fremde Sprachen hören. Kälte spüren. Dort geht er jetzt hin. Hier musste er Geld verdienen. Das ist vorbei. Er hat genug. Er hat auch das überlebt. Es fühlt sich nun leicht an. Das ist Hoffnung. Die Postkarte nimmt er mit. Seine Erinnerung klebt daran wie eine Marke. Er steckt sie in die Brusttasche seines zu weit geöffneten Hemdes, das die Brusthaare rausblitzen lässt, wischt sich die letzten feuchten Spuren aus seinem Gesicht, küsst das Kreuz an seiner goldenen Halskette, nimmt seinen schweren Rucksack und steht auf, um der ankommenden Fähre, die ihn über die Straße von Messina bringen wird, entgegen zu sehen. 


Etienne Thierry